Einige Gedanken zur Selbstbestimmung des eigenen Enneagrammtyps
Viele, die mit dem Enneagramm zum ersten Mal in Kontakt kommen sind der Auffassung, dass die Selbstbestimmung ja gar nicht so schwierig sein kann, da es ja „nur“ 9 Typen gibt. Gurdjieff, der das bis dahin größtenteils mündlich überlieferte Enneagramm-Wissen nach Europa brachte, war da ganz anderer Auffassung. Oft wird behauptet, dass er die einzelnen Persönlichkeitstypen des Enneagramms deshalb nicht lehrte, weil er sie noch nicht in dieser speziellen Form kannte, wie sie später erst von Naranjo und seinen SchülerInnen ausgearbeitet und schriftlich fixiert wurden. In der Tat gibt es erst deutlich nach dem Tode Gurdjieffs erste schriftliche Hinweise auf die 9 Persönlichkeitstypen. Natürlich aber wusste auch Gurdjieff, dass diese 9 Urprinzipien sich ebenso im Wesen jedes Menschen widerspiegeln, erkannte er als spiritueller bewusster Lehrer doch diese (unbewussten) Abwehrmechanismen seiner SchülerInnen ganz deutlich. Gurdjieff lehrte sie allerdings hauptsächlich bestimmte einzelne Bewegungsabläufe (Tänze), die in Beziehung zum System des Enneagramms stehen, aber keine Persönlichkeitstypen, da er der Auffassung war, dass seine SchülerInnen aufgrund ihrer Unbewusstheit ihren eigenen Typ nicht würden erkennen können, denn dieser Enneatyp war für ihn das Fundament für die Persönlichkeit und somit musste dieser durch ihn verborgen bleiben. Aus diesem Grund wies er seine SchülerInnen lediglich darauf hin, dass es 9 „Hauptcharaktere“ im Menschen gebe und dass jeder Mensch einen von ihnen zur Grundlage seiner Persönlichkeit habe. Aufgrund seiner Erfahrung wusste Gurdjieff allerdings, dass die Eigentypisierung dem Versuch gleiche, sich selbst an den Haaren aus einem Morast zu ziehen. Der Schwerpunkt seiner Arbeit als spiritueller Lehrer lag daher weniger in der Darstellung der Charaktereigenschaften der einzelnen Enneagrammtypen, sondern darin, den Menschen an sich bewusster zu machen und damit zu einem freieren, befreiten Wesen. So lehrte er sie immer wieder die „Selbsterinnerung“, um ihnen durch die daraus folgende erhöhte Bewusstheit Befreiung von ihrer individuellen Enneagrammfixierung zu ermöglichen. Er erkannte, dass nur durch den Weg von tiefer Unbewusstheit zur Bewusstheit die Möglichkeit der Selbsterkenntnis bestehen würde, auch der Selbsterkenntnis über die eigene Enneagrammstruktur, die jeweils in einem selbst vorherrscht. Eine einseitige gedankliche Fixierung auf einzelne Persönlichkeitstypen war nach Gurdjieff wenig erfolgversprechend, um den eigenen Typ selbst bestimmen zu können.
Nach meiner Erfahrung typisieren sich relativ viele Menschen vorschnell falsch, weil dabei der Wunsch häufig der Vater des Gedankens ist. Natürlich gibt es davon auch Ausnahmen, Menschen, die mit einem Mal schicksalhaft in einem lichten Moment die Wahrheit über ihren Typ erkennen, sei es durch das Lesen einiger Zeilen in einem Enneagramm-Buch, sei es durch andere Lebensumstände, während viele andere jahrelang das Enneagramm verstandesorientiert studieren und dabei aufgrund des berühmten blinden Flecks für die eigenen Persönlichkeitsmerkmale auf keinen grünen Zweig kommen, was die richtige Eigenbestimmung betrifft. Sicherlich mag es heutzutage tendenziell mehr Menschen geben, die zu dem notwendigen Grad an wahrer Selbstbewusstheit neigen, aber es gibt heute aufgrund des digitalen Zeitalters auch deutlich mehr Menschen, die in tiefer Unbewusstheit dem Leben gegenüber ihren verzweifelten Weg immer weiter gehen und dabei versuchen, mithilfe des Enneagramms die Widrigkeiten ihrer Lebensumstände beseitigen zu wollen, perfekter, liebenswürdiger, erfolgreicher, besser, schöner, fröhlicher, glücklicher, mächtiger, sicherer, wissender, harmonischer oder gar authentischer werden möchten und sich bei dem Versuch immer mehr von sich selbst entfernen, jeder auf seine enneagrammtypische Art und Weise, was dann zu noch größerer Unbewusstheit führt. Das alles mag ein wenig ernüchternd, ja gar pessimistisch klingen, aber nur für die Persönlichkeit, die immer schnelle Lösungswege sucht, auch mit der Hilfe des Enneagramms. Für das unterhalb unserer Fixierung befindliche wahre Selbst ist es jedoch eine frohe Botschaft, denn es möchte in jedem Menschen im Laufe seines Lebens immer deutlicher erkannt werden, was wir dann allgemein Bewusstseinserweiterung nennen, also einen Zustand, in dem wir jenseits unserer Persönlichkeit, unserem ständigen Habenwollen und unserer Enneagrammfixierung auf diese recht vorurteilsfrei schauen können, sie dadurch erkennen und Befreiung im lebendigen Sein im sog. Hier-und-Jetzt erlangen können, denn nur da ist sie zu finden, die notwendige Bewusstheit, nicht immer aber immer öfter. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern dieses Blogs ein gutes und vor allem bewusstes Neues Jahr 2018!